Predigt für meinen Prädikantenkurs 08.02.2012
„Lehrer-
und Pastorenvieh, gerät nur selten oder … nie!“
Die
Tatsache, dass wir darüber schmunzeln können, kann Verschiedenes
bedeuten: Entweder wir kennen dieses Sprüchlein und können es mit
einer gesunden Portion Eigenhumor über uns ergehen lassen oder wir
kennen nicht nur den Spruch, sondern wissen auch, dass leider viel
zuviel Wahrheit darinsteckt. Und wir könnten Geschichten
erzählen...! - Will ich aber gar nicht. Ich möchte Euch eine
Freundin vorstellen: Schublade hochhalten. Dieses funktionale
Möbelelement ist mir im alltäglichen Leben eine große Hilfe: eine
wahre Heldin des Alltags!
Mir
begegnet eine Frau mit Kopftuch: aha! Muslima. In einer neuen Klasse,
reißt gleich zu Beginn ein Junge, denn es sind IMMER Jungen, einen
Witz, alle lachen: aha! Der Klassenclown. Ich war früher die
Streberin. In der Firma gibt es die Tonangeberin, die entscheidet,
was der Chef zum Dienstjubiläum diesmal nicht kriegt. Eine gute
Freundin von mir ist sowas von Mutter. Und unter den Jugendlichen
grad sehr beliebt: der Lauch. Der Computernerd hat wenigstens noch
etwas in Sachen Computern drauf. Der Lauch ist der Nerd, der nix
wirklich kann. Die Schublade hilft uns, zwischenmenschliche
Beziehungen und wie Menschen zueinander stehen und miteinander
funktionieren oder auch gerade NICHT funktionieren, zu verstehen. Sie
gibt Sicherheit. Ich erlebe das durch meinen Umzug nach Hamburg
gerade nochmal ganz neu, was es heißt in bestehende Kreise
reinzustolpern. Und sie (Schublade hochhalten) ist dabei ungeheuer
nützlich. Schließlich entscheide ich in so einer Situation ja auch,
mit wem ich plaudern mag und mit wem ich mich anfreunden will bzw.
wessen Nähe ich vielleicht auch von vornherein meiden möchte. Und
die Schublade begleitet uns nicht nur in realen Alltagssituationen.
Ich
lade euch ein, einem Bibeltext zuzuhören. Ihr seid neu in der Stadt.
Und, wo lernt ihr am besten neue Leute kennen: am Sabbat in der
Synagoge. Ihr macht euch also auf und – habt sie hier (Schublade)
mit dabei.
Wen
haben wir da? Jesus. Von dem wissen wir zu Beginn noch nicht
sonderlich viel. Der führt irgendwelche hochintelligent klingenden
Dispute. Vielleicht ist er der Schlaumeier. Dann ist da eine
Frau. Die Verkrümmte. Mehr erfährst du auch auf Nachfrage
bei anderen nicht von ihr, nur dass sie schon so lange so sein muss,
dass sich kaum einer mehr daran erinnert, dass es mal anders war. Der
Schlaumeier hat aber doch noch mehr drauf als zu reden: er heilt
die Verkrümmte. Die nun eigentlich eine neue Schublade
bräuchte... Nach 18 Jahren der Krankheit ist sie nun in der Lage,
sich umzuschauen, den Rücken gerade zu machen, die Schultern zu
straffen und mehr zu sehen als ihre Füße. Sie lobt Gott. Dann kommt
der Prinzipientreue. Ihm ist die Ordnung wichtig. Der Sabbat
bedeutet ihm viel, vielleicht alles. Auch du weißt, der Sabbat steht
ja auch dafür, zu ruhen – wie Gott es getan hat nach der Schöpfung
und zu ruhen, wie die Israeliten in der Wüste einmal pro Woche –
im Vertrauen, dass ihr Gott sie auch an diesem arbeitsfreien Tag
versorgt. Als du hörst, was der Prinzipientreue sagt, nickst
du innerlich und denkst: „Ja, er hat Recht! Gott kümmert sich. Bei
18 Jahren macht ein Tag mehr oder weniger doch nichts aus!
Wenn er die Frau heilen kann, kann er das auch morgen noch!“
Eigentlich ist der Prinzipientreue
dir ganz sympathisch und du überlegst, ihn nachher zum Tee
einzuladen. Aber der Schlaumeier-Heiler
hat für den Prinzipientreuen und
alle, die so denken wie er eine eigene Schublade:
„Scheinheilige!“ Sinngemäß
sagt er: „Ihr kümmert euch auch
um die, die euch kostbar sind und versagt ihnen nicht des Sabbats
wegen eure Fürsorge.“ Ungesagt bleibt: „So kümmere ich mich um
die, die mir kostbar sind!“ Vielleicht muss der
Schlaumeier-Heiler auch noch in
die Kümmerer-Schublade?
Du merkst, deine Schublade stößt bei diesem Typen an ihre Grenzen.
Aber viel bestürzter bist du, als du begreifst, was er da gesagt
hat: „Jemand der nicht will, dass ich das hier jetzt – am Sabbat
– tue, ist nicht besser als jemand, der seinem Nachbarn verbietet
seine Tiere am Sabbat mit Wasser zu versorgen. Du bist
verantwortlich, wenn die Tiere verdursten!“ Dein prizipientreuer
neuer Freund in spe schaut beschämt zu Boden. Du tust es ihm gleich.
So praktisch
sie ist (Schublade) und soviel Sicherheit sie scheinbar bietet, aber
sie hat ein Problem: dieses Problem heißt JESUS.
Erstens
will er so gar nicht hineinpassen. Zweitens hat das, was Jesus in
dieser Geschichte an den Menschen bewirkt, die ihm begegnen, auch mit
ihr hier (Schublade) zu tun, aber nicht mit dem, was sie nicht kann,
sondern mit dem, was sie nur allZU
erfolgreich für uns tut. Denn sie dient uns nicht nur dazu, andere
Menschen einzuordnen, sondern wir lieben es, uns selbst in unseren
eigenen Schubladen häuslich einzurichten. Bei bequemen Schubladen
ist das gut verständlich. Ein Vater, der viel Liebe von seinen
Kindern bekommt, ist verständlicherweise gerne Vater. Eine Chefin,
die merkt, dass der Laden unter ihrer Führung gut läuft, ist gerne
Chefin und Respektsperson. Ein ehrenamtlicher Synagogenvorsteher, der
sich an den Ritualen freut und jeden Sabbat mit allem, was dazugehört
fröhlich zelebriert, ist mit Freuden der, der an Regeln und
Traditionen erinnert. Aber wie ist das bei unbequemen Schubladen? Sie
sind hart und rauh und alles andere als bequem. Und wirkönnen uns
vorstellen, dass das Verkrümmt-Sein der Frau eine äußerst
unbequeme war! Will ich etwa behaupten die Verkrümmte hätte sich in
ihrer Verkrümmt-Schublade häuslich eingerichtet? Ja und nein. Nein,
weil ich nicht glaube, dass sie, so lange sie krank war, eine Wahl
hatte. Sie war gefangen. Die Bibel nennt das „von Satan gefesselt
sein“. Aber auch: Ja. 18 Jahre sind eine lange Zeit. Viel Zeit, um
sich an ein Schicksal wie das ihre zu gewöhnen. Alle sprachen von
ihr nur als „die Verkrümmte“. Keins der Kinder kannte ihren
echten Namen. Und es gab Tage, da hatte sie das Gefühl, ihn selbst
vergessen zu haben. Sie eben nur „die Verkrümmte“. Wenn sie an
sich selbst dachte, dann an ihren krummen Rücken. Alles andere war
nebensächlich.
Ich kenne
das. Wenn ich mir einen Spitznamen geben sollte, wäre es wohl
Schusselinchen. Aber wenn mein Freund mich Tüddeltrine nennt, dann
gehe ich in die Luft. Weil er etwas ausspricht, dass ich für mich
selbst zwar als WAHR anerkenne, aber eine ganz tiefe Angst in mir
liegt, dafür weggestoßen zu werden. Das meine ich mit häuslichem
Einrichten sogar im Unbequemen: der Gedanke: „Eigentlich haben die
anderen, die so schlecht über mich denken ja Recht!“ Denk mal an
deinen Mann, deine Frau, deinen Sohn, deine Tochter deine ganze
Familie oder auch dich selbst. Ich denke auch an Schüler von mir und
Jugendliche aus meiner Gemeinde. Und such dir eine Schublade für sie
oder ihn. Sei in dieser Sekunde nicht allzu kritisch mit deiner
Entscheidung, aber gehe davon aus, dass sie alle für sich selbst
auch eine haben.
Nun
kommt Jesus daher und sieht hinter
die Front der Schublade, auf der steht: „Verkrümmte“. Und er
sieht „eine Tochter Abrahams“, eine, die nicht ausgestoßen ist,
sondern dazugehört. Wir erfahren ihren Namen nicht, aber nennen wir
sie Rahel. Denn sie hat einen, IHREN Namen. Jesus demonstriert an der
Verkrümmten Gottes Blick auf uns. Jesus sieht hinter das
oberflächlich Offensichtliche, das uns klassifiziert und wodurch wir
uns klassifizieren lassen, das uns bindet und starr macht. Und er
zieht in dieser Geschichte nicht nur die Verkrümmt-Schublade auf, um
sich das Dahinter anzuschauen. Er zieht auch die auf, auf der steht,
„prizipientreu“ und entlarvt alle Schubladenzuordnungen. (Zettel
mit mögl. Zuordnungen – Dorftrottel, Behindert, Helfer,
Klassenclown, Lebemann, Streber, Tonangeber, Lehrer, Muslim, Vater, …
- einzeln hochhalten) Alle scheinen eigene Schubladen zu verdienen.
Aber da, wo mich meine Zuordnung, der ich mich unterwerfe oder
unterworfen sehe, starr macht, fesselt und niederdrückt, merke ich,
dass ich die Verkrümmte der Geschichte bin, die Jesus sieht, die
Hände auflegt und heilt. Und jedes Mal, wenn Jesus eine Schublade
aufzieht und den starr gewordenen Menschen dahinter ansieht, sagt er:
„Komm heraus, mein Kind! Sei frei!“
Die Fragen,
die ich mir nun stelle, sind:
Was für
Schubladen habe ich eigentlich im Angebot? Wo denke ich: „Ach, das
ist so einer/ so eine?“ Wo erlebe ich, dass meine Schubladen an
ihre Grenzen stoßen? Und in welcher Schublade sitze ich eigentlich?
Geht es mir gut damit? Habe ich es verdient, hier drin zu sitzen?
Habe ich die Möglichkeit zu wechseln? Darf ich wechseln?
Und wie eine
Antwort auf meine letzte Frage, höre ich wie jemand von außen an
meiner Wohnschublade rüttelt und zieht.
Was
Jesus tut, ist: Er zieht die Schublade auf und sagt:
„Komm
heraus, mein Kind! Sei frei!“