Samstag, 21. Mai 2011

Alles scheiße?!?

Predigt für Sonntag, Kantate, den 22.05.2011
Text: Mt21,14-17.18-22
Einstieg:
Wo bist du das letzte Mal verletzt worden? Wo hast du dich über jemanden geärgert? Wo und in welcher Situation hast du das Verhalten eines anderen missbilligt und gedacht: „Das geht doch nicht! Dem da müsste man doch... Der da müsste jemand mal...“

Der Doofie, der dir hier vor der Kirche den Parkplatz wegschnappte. Die Truse, die sich beim Bäcker vordrängelte. Der Kollege, der seine Arbeit nicht geregelt bekommt und dessen Kram auf deinem Schreibtisch bzw. deinen Schultern landet. Die Mitschülerin, die dich beim Lehrer verpfiffen hat. „Zur Konfirmation der Nachbarstochter haben wir aber `was in `ne Karte gesteckt, aber was kommt zurück, wo unser Enkel Konfi hat???“… Unverschämtheiten. Unverfrorenheiten. Unsensibles Verhalten. Lästern. Lügen. Vertrauensbrüche. Menschen verletzen uns sogar mit ihrer Art, sich in der Öffentlichkeit zu geben: Oder wann hast du dich das letzte Mal über öffentliches Nasepopeln, furchtbare Klamotten, Übergewicht und andere Unzulässigkeiten aufgeregt? Ich kenne das jedenfalls. Ja, Menschen verletzen uns. Verletzungsgeschichten gibt es unendlich viele. Und jeder von uns kennt sie. Andere verletzen uns und wir verletzen. Ätzend! Das ist doch nicht schön! Dagegen müssen wir doch was tun! 

Text:
Mt21,14-17 vorlesen >> 14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel und er heilte sie. 15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? 17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.
Ach, wie schön!!! Was für ein guter Text! Jesus als der kinderliebe Weltverbesserer, der den versnobten Gelehrter mal die Meinung sagt! So gefällt er uns. Und daraus lässt sich doch bestimmt ableiten, wie wir Verletzungen in Zukunft aus dem Weg gehen und niemanden mehr verletzen! … Ich bin nicht ohne Grund so spöttisch. Man könnte in der Tat den Text genau so verstehen. Man darf ihn ganz sicher auch so verstehen! Das tue ich auch – zu gegebener Zeit. Ich würde nie auf diese Botschaft der Liebe Gottes zu den Kleinen und Unmündigen, auf die sonst keiner hört, verzichten wollen! Aber der Predigttext von heute schlägt vor, noch einen Schritt weiter zu gehen:
Mt21,18-22 vorlesen >> 18 Als er aber am Morgen wieder in die Stadt ging, hungerte ihn. 19 Und er sah einen Feigenbaum an dem Wege, ging hin und fand nichts daran als Blätter und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir niemals mehr Frucht! Und der Feigenbaum verdorrte sogleich. 20 Und als das die Jünger sahen, verwunder­ten sie sich und fragten: Wie ist der Feigenbaum so rasch verdorrt? 21 Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein Taten wie die mit dem Feigenbaum tun, sondern, wenn ihr zu diesem Berge sagt: Heb dich und wirf dich ins Meer!, so wird's geschehen. 22 Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr's empfangen.
Was für ein Text! Der macht mich erstmal sprachlos. Jesus macht eine Pflanze platt, weil er Hunger hat und sie ihn nicht stillt. Jesus zieht den Feigenbaum zur Verantwortung! Man könnte eine ganze Predigt darüber halten, was hier an einem Baum und einer nicht erbrachten Frucht verdeutlicht werden soll, aber darum geht es mir heute nicht. Zumindest nicht vordergründig. Ich will an dieser Stelle nicht auf das Dass hinaus, sondern auf das Wie. Wie erscheint Jesus hier? Das ist nicht der sanftmütige Heiler, auf dessen Schoß sich Kinder tummeln. Direkt vor den Blinden- und Lahmenheilungen, die wir eben gehört haben, erzählt uns Matthäus wie Jesus erbost den Tempel leerfegt. Händler und Geldwechsler schmeißt er raus. Im Johannesevangelium nimmt er dazu sogar eine Peitsche! Hier wird nicht diskutiert. Keine Spur von Rechte-wie-linke-Wange-Hinhalten! Und dann doch wieder: Direkt vor der Tempelreinigung wird von Jesu Einzug in Jerusalem berichtet: Auf einem Esel – der sanfte Herr und König, dem die Masse, dennoch zujubelt. Palmsonntag! Alles Jesus! Auf so wenig Versen so eine Bandbreite eines Charakters! Das ist alles Jesus: Der König, der auf äußere Zeichen der Macht aber verzichtet, sogar tiefstapelt. Der aufgeschlossene, annehmende Wundertäter, der aber mit Gewalt Grenzüberschreitungen ahndet. Der Zauberer, der alles kann bzw. könnte (sogar Berge versetzen), der aber lehrt statt zu behexen, der hungert wie ein normaler Mensch. Der Segnende, dessen Berührung Menschen heilt, der aber eine Pflanze verflucht. Der Menschenversteher, der aber - wissend um seine Autorität - Gott vertritt und menschliche Autoritäten in Frage stellt. Alles Jesus.
Warum macht Matthäus das? Warum zeigt uns Matthäus Jesus hier in dieser Bandbreite? Warum in dieser Wucht? Es ist, als ob er seine gesamte Jesusgeschichte, sein Evangelium, die Gute Nachricht, die er mitJesus Christus untrennbar verbunden sieht, in aller Deutlichkeit noch einmal in ihre Abschlussepisode packen wollte. Wie ein Lehrer, der , weil er am Ende seiner Stunde nicht weiß, was bei seinen Schülern angekommen ist, den zentralen Unterrichtsstoff noch einmal in drei Sätzen zusammenfasst: Jesus kompakt. Im Sinne eines: „Wenn ihr euch auch nicht alles merken könnt, dann aber DAS!“
Und in Jesus: Gott kompakt. In Jesus begegnet uns Gott. Daran glauben wir. Das macht uns zu Christen.
Jesus zeigt uns, wie Gott ist in seiner ganzen unvorstellbaren Bandbreite und Vielseitigkeit. Demnach ist Gott extrem – in alle Richtungen: er liebt extrem, er hasst extrem, er zeigt Macht und ist sanft- und demütig. Er ist König und Knecht. Verurteilter und Richter. Er ist aufgeschlossen und nimmt uns an, aber setzt ebenso radikal Grenzen. Er hat Macht, Unvorstellbares zu wirken und als Lehrer/ Erzieher (Pädagoge) lässt er uns die Freiheit, zu lernen, was wir für wichtig halten, obwohl es auch anders ginge. Er segnet und verflucht. Er demonstriert seine Macht, aber sagt im gleichen Atemzug, dass der Glaube (jeden) dazu ermächtige, Unvorstellbares zu wirken. Jesus lebt es, was es heißt, Kind Gottes zu sein. Er weiß, dass er Ebenbild Gottes ist – so wie wir alle. Insofern:
In Jesus hält Gott uns auch den Spiegel vor: „So bist du, weil ich so bin,“ spricht Gott durch Jesus zu uns. „Du kannst, was er kann. Du bist, was er ist. Ihr seid Geschwister, ihr meine Kinder.“
Jeder kann, wenn er glaubt, was hier gezeigt wird: Jesus ist unser Bruder! Wo du glaubst, dass DU geliebtes, ermächtigtes Kind Gottes bist, da darfst du du sein. Da darfst und kannst du wüten und heilen, verfluchen und segnen, vor Freude singen und schweigen.

>> Aber damit, wenn ich einfach so drauflos lebe und nicht nachdenke, tue ich doch anderen weh! Selbst das, was Jesus da tut, ist doch furchtbar! Er treibt die Menschen aus dem Tempel. Er zerstört. Er tötet mutwillig eine Pflanze, die es wagt, sein Bedürfnis (seinen Hunger) nicht zu stillen. Das darf ich doch nicht! Jesus vielleicht, aber ich doch nicht! Das kann doch unmöglich richtig sein, einfach so drauflos zu leben.
Aber:
Erstens: Wenn du diesen Gedanken schon hast, lebst du nicht einfach so blind drauflos. Du machst dir ja schon Gedanken um die Menschen um dich her und um alles, was dich umgibt. Und
Zweitens: Kein Mensch tut mutwillig das Falsche! Jeder handelt so, wie er es für richtig hält. Selbst Menschen, die uns wehtun oder etwas tun, was ich vielleicht als grundfalsch einschätze, haben sich an dieser Stelle genau dafür entschieden, weil es für sie richtig ist. Gucken wir uns Jesus in diesen Geschichten an: Er verstört., er tut weh, indem er tut, was richtig für ihn ist. Jesus handelt hier. Es wirkt unbedacht. Vielleicht ist es genau das: Ich glaube nicht, dass unser Leben häufig so schwierig ist, weil wir uns zu wenig Gedanken machen würden. Ich halte keinen von euch, niemanden auf dieser Welt für einen schlechten, bösen, unbedachten Menschen. Jeder von uns möchte gut sein und alles richtig machen, Anerkennung bekommen, gemocht und geliebt werden. All unser Denken und Trachten ist darauf ausgerichtet. Wir fragen uns permanent: Wie mache ich es richtig? Aber was, wenn der Sinn des Lebens nicht darin besteht, die Antwort auf diese Frage, sondern sie zu vergessen???
Zwei Dinge möchte ich dir heute mitgeben:
  • Lebe! Da, wo du immerzu versuchst, alles richtig zu machen, vergisst du zu leben, weil es auf diese Frage keine allgemeingültige und für alle befriedigende Antwort gibt! In der Feststellung, dass alles, was du tust, irgendwem schadet, sowie dein Beschluss, niemandem schaden zu wollen, klebt dich am Boden fest und macht dich handlungsunfähig. Du bist tot mitten im Leben. Ich bin davon überzeugt, dass Gott, der uns ins Leben gerufen hat, das nicht will. Und:
  • Ja, du wirst verletzen und du wirst verletzt werden. Das ist schlimm. Ich will das nicht schönreden! Jeder von uns hat hier seine eigenen Geschichten und es werden neue hinzukommen. Alle schlimm. Schmerz bleibt, selbst da, wo auch Entschuldigungen ausgesprochen wurden und Wiedergutmachungen erfolgt sind. Ätzend! Lust darauf hat keiner! Aber wir kommen um Verletzung nicht herum. Der Ort, wo Verletzung ausgeschlossen ist, heißt Tod. Der Ort, wo Verletzung unabdingbar mit dazu gehört, heißt Leben. Die einzige Antwort, die ich bislang auf die Frage gefunden habe, wie wir mit der Tatsache alter und neuer Verletzungen umgehen können, heißt Vergebung. Das ist Gottes Geschenk an uns Menschen. Und wir brauchen es, weil wir sind, wie er ist. Jesus hat uns das heute gezeigt, indem wir ihn gesehen haben, wie er ist.
Amen.

Wenn wir immerzu Angst haben, schief zu singen, werden wir schließlich gar keinen Ton herausbringen! Also: Kantate! Lasst uns singen! :)

Montag, 9. Mai 2011

Liebe Janina!

Ich weiß, du denkst, du müsstest alles richtig machen.
Ich weiß, du hast Angst, alle Menschen, die dir etwas bedeuten, würden sich einfach irgendwann verdünnisieren und sang- und klanglos aus deinem Leben verschwinden. 
Ich weiß, das fühlt sich für dich wahr an. Unumstößlich. Aber das ist es nicht. Das ist eine Lüge, der du geglaubt hast. 
Glaub´ ihr nicht. Glaub´ ihr nicht mehr. Dazu besteht keine Notwendigkeit, auch wenn du dich dann schutzlos fühlst. In Wahrheit macht dich diese Lüge kaputt. Sie flüstert dir ein, dass es möglich und nötig sei, alles richtig zu machen und dass dir dann, aber auch nur dann, niemand mehr abhanden kommt. 
Wenn du weiterhin glaubst, dass es nur an deinem Bemühen liegt, und du feststellst, dass Menschen trotzdem gehen, wirst du immer zwanhafter und strenger mit dir sein, dich selbst immer weniger lieben und immer mehr Bestätigung von außen brauchen. 
Das ist ein wahrer Teufelskreis, der niemandem gut tut - nur schadet. Gott will, dass du frei bist. Ausbrichst. Erkennst. Liebst. 
Menschen kommen und gehen. Das ist Leben.
Menschen gehen und lassen dich zurück. Das ist schlimm und doch richtig. 
Dort, wo sie das tun, entscheiden sie sich für das Leben nicht gegen dich, auch wenn es sich für dich so anfühlt. Du sehnst dich nach Vergebung. Sie ist dein Thema und doch weißt du nicht, warum. Du bittest, bettelst und flehst, gelobst Besserung, damit doch "alles wieder gut" ist. Gott schenkt Vergebung, aber es ist eine andere, als du immer dachtest. Vergebung übersteigt jedes menschliche Vermögen. Bitte Gott um Vergebung für die Menschen, die gingen und dich zurückließen. Keiner von ihnen hat etwas falsch gemacht. Keiner traf die Wahl zwischen Richtig und Falsch, Bleiben und Gehen, Nicht-Sünde und Sünde. Hör auf, Listen zu schreiben mit Dingen, die du nicht tun darfst! Vergebung braucht die Tat nicht ihrer selbst wegen, sondern ihr Ergebnis - die Trennung, der Beziehungsbruch - schmerzt dich und hat dich geformt. 
Aber du bist nicht die Summe deiner Schmerzen! Du bist viel mehr. Das wird bleiben, wenn du den Schmerz hinter dir lässt.
Und du wirst entdecken, wie wunderbar du bist und immer gemeint warst. 

Alles Liebe! j.